Klassiker: Tokyo Inferno

Dieses Mal ein kleines Experiment aus der Mottenkiste. Unser geschätzter Kollege vom Gorilla, Michael Ecke, arbeitet freiberuflich als Übersetzer. Tokyo Inferno von Usumaru Furuya begeisterte ihn dabei so sehr, dass er im Kollegenkreis fragte, wer das Werk denn mal rezensieren könnte. Thomas Nickel und meine Wenigkeit haben uns dann beide das Buch unabhängig voneinander vorgenommen und gemeinsam ein Review zu diesem in der Tat (besonders für Nicht-Manga-Fans) lesenswerten Manga verfasst. Das Ergebnis findet ihr jetzt hier.

Ja, in Deutschland erscheinen eine ganze Menge Manga – trotzdem ist das Bild, das wir hierzulande von Japans Comickultur haben, stark verzerrt. Tatsächlich wird nur eine kleine Auswahl der in Japan erscheinenden Manga in den Westen gebracht, und zudem beschränken sich auch die meist auf eine handvoll Genres.

So unterscheidet sich Usamaru Furuyas Tokyo Inferno in einigen prägnanten Punkten stark von dem, was man in Deutschland so gemeinhin als Manga kennt. Es gibt keine Glubschaugen oder extrem überzeichnete Mimiken, keine bis ins Übermaß überladenen Panels, keine kompliziert ineinander verschachtelte Story und keine endlosen Hauereien. Kurzum: Tokyo Inferno bietet keinerlei Angriffsfläche für die üblichen Vorurteile gegenüber dieser Literatur und ist dennoch – oder wohl eher gerade deswegen – ein verdammt packendes Stück Japankost geworden! Wer keine grundsätzliche Allergie gegen gezeichnete Geschichten hat, hat keinen Grund sich dieses Werk nicht anzusehen.

Jin, ein strebsamer und engagierter Student, der seine Zukunft in festen und sicheren Bahnen planen will und die gleichaltrige Nanako, Groupie einer düsteren Visual-Kei-Band, die davon träumt, auf immer ihrer Lieblings-Band Sarin Helnwein treu zu sein, sind die Protagonisten dieser Geschichte die Autor und Zeichner Usamaru Furuya basierend auf dem Buch 51 Wege, wie du deine Freundin beschützen kannst – Der Tag, an dem die Hauptstadt bebte durch ein fantastisch erschütterndes Inferno schickt.

Jin und Nanako kennen sich noch aus gemeinsamen Schultagen und treffen sich im Tokyoter Stadtteil Odaiba überraschend wieder, kurz bevor die Erde bebt. Furuya lässt sich zu Beginn genügend Zeit um den Ort und die Figuren vorzustellen, ohne sie dabei aber gleich bis auf ihr Innerstes zu entblättern. Unaufdringlich gibt er daneben Einblicke in all die kulturellen und sub-kulturellen Eigenarten des japanischen Großstadtlebens, ohne dabei aufdringlich zu wirken oder Klischees zu strapazieren. Eine narrative Taktik, die sich auszahlen soll.

Der Autor folgt einem klassischen und sehr stringenten Erzählmuster. Nachdem das erste große Beben die Protagonisten zusammen mit der ganzen Stadt überraschte, beginnt die Suche nach einem sicheren Unterschlupf, Hilfe und dem langsamen Begreifen, was gerade wirklich passiert ist. Das Tempo ist dabei nicht übertrieben hoch und auch nicht quälend langsam. Hat man den ersten Schrecken noch recht schnell überwunden, dauert das Begreifen und Realisieren des Geschehenen bis zum Ende des dicken Bandes an. Werden Jin und Nanako erst noch mit überfluteten Straßen, verschütteten Menschen und Plünderern konfrontiert, so wirken diese Folgen fast schon banal, wenn man nach und nach erlebt, welche Opfer und wie viel Leid die Überlebenden mit sich herumtragen müssen. Und als sei dies nicht schon genug, kommen durch Nachbeben und Kollateralschäden immer neue Gefahren hinzu.

Diese Kette von Ereignissen und Handlungsabschnitten wirkt dabei nur anfänglich ein wenig wie aus dem Lehrbuch, wohl aber auch deswegen, weil das Thema schon sehr oft in meist eher mittelmäßigen Katastrophenfilmen umgesetzt wird. Seine Stärke entwickelt Tokyo Inferno sobald die Protagonisten die ersten, noch nicht sonderlich überraschenden Hindernisse überwunden haben. Was auf den ersten Blick überladen oder stellenweise komisch wirken mag, ist beim genaueren Hinsehen ein sehr genaues Zeugnis dessen, was eine solche Katastrophe mit den Menschen anrichtet.

 

Natürlich hinterlassen solche Ereignisse Spuren in den Menschen. Dass sowohl Jin als auch Nanako daraus lernen und darum kämpfen, nicht unter der Last zu zerbrechen ist selbstverständlich. Das Gute wie das Schlechte im Menschen werden in solchen Szenarien stets besonders gefördert. Um dies zu zeigen nutzt Furuya nicht nur die Nebenfiguren, sondern deutet diese Gefahren auch immer wieder bei seinen Hauptfiguren an. Während Jin und Nanako als zunächst komplett gegensätzlich angelegte Hauptfiguren beide auf ihre Art und Weise doch sympathisch wirken, ist die später dazustoßende Rika schon eine deutlich zwielichtigere Figur, entspricht so aber auch dem intensiver werdenden psychischen Druck, der in der zweiten Hälfte des Bandes geschildert wird.

Keine Frage, das Szenario des zerstörten Tokios vermittelt Schrecken und die eigenartige Atmosphäre sehr direkt. Viel ergreifender sind aber die Gesichter. Obgleich es immer wieder große Panoramabilder der zerstörten Stadt und vom Chaos gibt, sind doch die Gesichter die eigentliche Projektionsfläche. Mit einem sehr realistischen Stil und gutem Gespür für die feinen Nuancen zwischen Panik, Unglauben, vergehender Hoffnung und Verzweiflung vermittelt Furuya das nur langsam entstehende Begreifen und die immer wieder aufkommende Panik der Menschen. Dies merkt man schon auf den ersten Seiten, welche gleich einer Ankündigung des Schreckens einfach nur verstörte Gesichter zeigt, gefolgt von freudigen Gesichtern mit den Wünschen für ihr jeweiliges Leben.

Obschon die detailierten Mimiken sehr ergreifend wirken, variiert er auch den Zeichenstil der Figuren selbst je nach Lage. Haben sich die Personen gerade gesammelt und finden wieder Ruhe sowie vielleicht gar neue Hoffnung, werden die Linien und Flächen klar und hell. Dämmert neue Gefahr oder sind sie von neuem Schrecken erfüllt, führt er die Linien unklarer, die Bilder werden schmutziger und zerstörter.

Da, wie schon erwähnt, die Panels gleichzeitig nie unüberschaubar werden, Shôjo-typische Splashpages nicht vorkommen und der Handlungsverlauf jederzeit gut erkennbar ist, macht Furuya es dem Leser sehr leicht, sich auf die Aussagekraft seiner Bilder einzulassen. Dabei wissen so manche Bilder den Leser doch stark zu verstören, aber schließlich hat Furuya den Manga mit dem Anspruch einer realistischen Darstellung geschaffen. Und man kann ihm keineswegs vorwerfen, er würde sich in grotesken Bildern suhlen. Nein, das, was hier an Schrecken zu sehen ist, egal ob in den Gesichtern der Protagonisten, oder an den Bildern der Katastrophe selbst, ist schlichtweg die Essenz des Schreckens solcher Dramen.

Wie die Odyssee der drei Protagonisten zu Ende geht, und ob alle drei ihre Ziele überhaupt lebend erreichen, werden wir dann demnächst im zweiten Sammelband erleben. Ja, richtig gelesen – Usamaru Furuya schafft es, seine Geschichte in nur zwei – zugegeben sehr umfangreichen – Bänden zu erzählen, eine angenehme Abwechslung in Zeiten, in der jede noch so dünne Shônen-Geschichte auf 20 bis 30 Bände ausgewalzt wird. Welche Richtung der Autor für den abschließenden Band einschlägt kann man nur vermuten. Zweifellos wird er sich um einen faktisch realistisch angesetzten Weg bemühen, doch was das für die Charaktere und ihre Herausforderungen bedeutet, kann man nur erahnen.

Vergleichen kann man Tokyo Inferno kaum, da Manga mit solch ernster Herangehensweise und Thematik in Deutschland bisher eher die Ausnahme sind – spontan fallen noch die Mangas von Jiro Taniguchi ein, der oft auch den Kampf, aber auch die Koexistenz des Menschen mit den übermächtigen Kräften der Natur thematisiert. Es bleibt zu hoffen, dass dieses exzellente Werk die hiesigen Verlage beflügelt, mehr in diesem Stil zu veröffentlichen – es gibt eben doch eine Manga-Welt jenseits von Jump! und Shônen Ai.

Das Warten auf dem zweiten Band von Tokyo Inferno lohnt sich auf jeden Fall, und bis der endlich erscheint, bietet der erste Sammelband genug Stoff für mehrmaligen Konsum. Versprochen!

  • Text Copyright 2010 Thomas Nickel, Alexander Lachwitz
  • Cover, Artwork Copyright TokyoPop

 


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