In einem Jahr kann viel passieren. Zum Beispiel kann ein neuer Webcomic starten und in nicht mal 10 Monaten genug Material für eine Hardcover-Buchausgabe füllen. Wenn die einzelnen Strips dann auch noch technisch aufwendig und inhaltlich umfangreich daherkommen, dann ist es definitiv angebracht auf leistungssteigernde Hilfsmittel zu testen. Bevor man aber nun voreilige Schlüsse zieht, sollte man die Causa Schisslaweng erst einmal genauer begutachten.
Sehen wir es mal nüchtern; bis vor einem Jahr war Marvin Clifford in der Webcomicszene nicht mehr als eine Randnotiz, wenn auch eine bekannte. Sein bis dahin laufender Webcomic Shakes & Fidget (inkl. dem inoffiziellen Wettbewerb nach der krudesten Namensverballhornung) lief im Rahmen des gleichnamigen Satire-Browsergames und war eher in Gamer- und Fantasy-Kreisen bekannt. Damit besaß er zwar eine ausgesprochen große Fangemeinde, teilte sich diese aber kaum mit der sonst üblichen Webcomicleserschaft wie sie z.B. bei Sarah Burrini, Flausen oder Beetlebum auftritt. Im ersten Strip fragt Marvin sich dazu passend auch direkt selbst, ob er für einen ‚klassischen‘ Webcomic denn wirklich genug erzählerisches Potenzial hat. Aber wenn man vom Webcomic eins gelernt hat, dann dass es für so ziemlich alles eine Nische gibt.
Schisslaweng – Etwas mit Schwung, Leichtigkeit, Unbeschwertheit tun; so die Übersetzung des Autors. Man könnte unterstellen: Wenn man schon keine gute Namen findet, dann versucht man sich an Zungenbrechern. Aber in Zeiten in denen Schwuppdizität ein wichtiges Messkriterium bei Handys & Tablets ist… warum dann nicht auch etwas mehr Schisslaweng im Leben?
Wer schon Shakes&Fidget kannte, wird sich schnell heimisch fühlen. Marvin hat nochmal eine Schippe mehr Details raufgelegt und das Szenario ist rüber in den Alltag gewandert, was aber einige Ausflüge in andere Genres nicht ausschließt. Inhaltlich serviert er also die schon in anderen Webcomics bewährte Mischung aus Alltags- Berufs- und Beziehungserlebnissen. Hier könnte man schon meckern, dass Herr Clifford sich vorher wenigstens einen anderen Beruf hätte suchen können, denn gefühlt arbeitet jeder Webcomiczeichner als Illustrator etc. und lässt dies oft genug in seine Strips mit einfließen. Gottlob bringt seine bessere Hälfte als Grundschullehrerin hier etwas Varianz mit rein, auch wenn manchmal der Gedanke nahe liegt, ihr Beruf sei nur eine Metapher auf das Zusammenleben mit einem chaotisch-begabten Zeichner.
Und damit soll nun nicht geschleimt werden. Das auffälligste Merkmal an Marvins Zeichnungen ist seine enorme Detailfülle und technische Besessenheit. Wie Flix im Vorwort so treffend anmerkt, Marvin ist ein Photoshop-Fetischist par excellence. Pro Strip füllt er locker eine oder gar mehr A4-Seiten aus (sehr gut erkennbar, wenn man die Strips online liest) und schert sich nicht um bisherige etablierte Formate. Ein solch ausuferndes Format ist üblicherweise eher für geplante Seriencomics wie Gaia von Powree und Oliver Knörzer geeignet und weniger für einen biographischen Webcomic mit lose zusammenhängenden Episoden. Genau so wenig scheut er es, Panels beliebig oft zu kopieren um das Timing beim Erzählen ganz nach eigenem Gusto diktieren zu können. Auch hier und da mal ein Foto als Hintergrund zu nutzen ist für ihn kein Tabu. Kurzum, grafisch zieht Marvin ganz einfach seinen eigenen Stil durch. Und hat man als altgedienter Webcomicleser bzw. Liebhaber der Indie-Szene den Einstiegsschock erst einmal überwunden, entdeckt man sehr viele neue Aspekte, die Marvin hier aus dem großen Format in den Webcomic einbringt. Zuerst ist man erschlagen und angefixt von den opulenten Bildern und nach der ersten Erholungsphase überlegt man, ob einem das nicht doch zu Mainstream ist und ob die narrativen Kniffe den eigenen Ansprüchen genügen.
Beruhigend nimmt man aber immer wieder kleine oder auch mal größere Experimente wahr. Dazu wird dann gerne mal der ganze Zeichenstil einer Episode verändert oder er arbeitet gleich über mehrere Panels hinweg mit fast demselben Gesichtsausdruck. Solche Timing-Spielereien sind nicht jedermans Sache, aber wo, wenn nicht in einem Webcomic, will man so etwas ausprobieren? Wo Flix fest auf vier Panels als der Krone komprimierter und pointierter Erzählkunst pocht und Beetlebum seine Paneltürme in immer neue Höhen schraubt und mit Tech-Spielereien vollpumpt, da bleibt Marvin in seinem großen Seitenrahmen und experimentiert munter und ohne großes Aufhebens herum. Diese Unaufgeregtheit trotz des grafischen Bombast ist definitiv eine der großen Stärken von Marvin Clifford.
Echte Mängel finden sich kaum, vieles ist dann doch Geschmackssache. So kann man durchaus darüber streiten ob einem Marvins Dialoge zu inszeniert daherkommen, beispielsweise im Vergleich zu Sarah Burrini, die sprachlich einen Tick mehr natürlicher und flotter daherkommt. Auch ist Marvin eher der Freund des direkten und lauteren Humors, obgleich vereinzelt auch mal stille Alltagsphilosophie Einzug hält. Aber er hat ein sehr gutes Auge und mit seiner Freundin, dem leidigen Postboten und Bruce hat er sich schon in kurzer Zeit ein solides Figurenensemble erarbeitet, das hoffentlich noch für einige Jahre gute Geschichten liefert.
Fazit zum Ersten
Schisslaweng ist in erster Linie sehr viel persönlicher Stil von Marvin Clifford. Die Parallelen zu Shakes & Fidget sind sowohl im Erzählerischen wie Grafischen nicht zu übersehen und gleichzeitig hat er sich nun die Freiräume geschaffen auch einmal etwas anderes zu probieren (was keine Anspielung auf die Comicanthologie mit dem entsprechenden Namen sein soll. Wirklich nicht…. ehrlich!). Rückblickend kann man nach einem Jahr bzw. mit dem im Buch versammelten Strips die Entwicklung sehr gut verfolgen, auch wenn sie eher auf erzählerischem und weniger auf grafischem Niveau stattfindet (hier wird es sicher nicht leicht noch viel mehr nach oben zu gehen…). Das erste Jahr Schisslaweng war ein fulminanter Start, der den deutschen Webcomic defintiv bereichert hat. Jetzt wird es interessant zu sehen, wie sich Schisslaweng weiterentwickelt.
Schisslaweng 1.02 kommt gegenüber der Erstauflage mit neuem Cover, einem gestiegenem Umfang (von 75 auf 102 Seiten) daher und ist mit 23€ preislich absolut im Rahmen. Das Buch wirkt sehr solide und wertig und ist ohne Druckfehler oder Mängel, wie sie sich z.B. noch beim Sketchbook 1.1 finden ließen. Wie auch andere Webcomicler, hat Marvin sein Buch komplett in Eigenregie gestaltet und gedruckt und kann sich definitiv als hochwertige Ausgabe sehen lassen. Der Unterschied zu Verlagsdrucken wie von Zwerchfell oder gar Carlsen ist mit der Lupe zu Suchen, was bei diesem Umfang und der kurzen Vorlaufzeit definitiv noch ein Extra-Lob verdient.
Fazit zum Zweiten – by Nessi
Auf dem Backcover schreibt Ponyhof-Betreiberin Sarah Burrini: „Ich hasse Dich ein wenig dafür, dass Du den Qualitätsstandard bei deutschen Webcomics so anhebst…“ – und man möchte ihr sofort zustimmen, wenn man sich durch den ersten Sammelband von Marvin Cliffords Webcomics gelesen hat, die unter dem schönen wie exotischen Namen „Schisslaweng“ firmieren. Tatsächlich sind die Zeichnungen von höchster Qualität und gerade die Coloration erscheint sehr detailfreudig und aufwendig, sodass man sich als (nicht am PC arbeitender) Hobbyzeichner durchaus fragt, wie er das so wöchentlich wegwuppt, zusätzlich zu all seinen anderen Aktivitäten (WIE??). Wenn man von anderen, lieb gewonnenen Webcomics rüberlinst, ist man in der Tat erst einmal von der umwerfenden Farbigkeit und Detailfülle geflasht (was jetzt – um Gottes Willen – keinen der anderen abwerten soll!).
Aber auch der Inhalt der Strips steht dem optischen Anspruch in nichts nach. Marvin Clifford erzählt humorvoll und mit einem Augenzwinkern von den großen und kleinen Problemen, mit denen er und seine Freundin Denise in ihrem Alltag konfrontiert werden. Auch wenn man sich als Leser zu Beginn manches Strips fragt, wohin die Reise wohl gehen mag, steht doch am Ende der Seite zuverlässig eine gelungene Pointe, die einen zum Schmunzeln und auch mal laut Lachen verleitet. Dafür sorgen das sympathische Personal (mit einer beabsichtigten, gelbgewandeten Ausnahme) und die vielen Alltagssituationen, die nicht nur Comiczeichner, sondern auch viele andere Leser aus ihrem Alltag so oder so ähnlich wiedererkennen werden. Gleichzeitig finden sich auch viele popkulturelle Anspielungen, die es zu entdecken gilt. Darüber hinaus entwickeln sich über die einzelnen Seiten hinweg übergeordnete Handlungsstränge, die den Leser zum Dranbleiben motivieren.
Das alles in einer gelungenen Mischung mit der sehr angenehmen und sehr gut umgesetzten optischen Präsentation macht den Reiz der kleinen cliffordschen Alltagsgeschichten aus.
Sicher kann der an hochkulturelle Genüsse gewöhnte Leser einwerfen, dass es sich hier nicht um tiefschürfende, sozialkritische und weltbewegende Auslassungen handelt – aber das sollen sie eben auch gar nicht sein. Als vergnügliche Lesepause zwischendurch eignen sich das Büchlein hervorragend und man darf gespannt sein, was sich im nächsten Jahr alles noch beim Herrn Clifford tun wird – ich bin sicher, es wird auf Bildschirm und Papier auf jeden Fall sehr gut aussehen.
- Marvin Cliffords Schisslaweng – Sammelband 1.02, Zweitauflage
- Eigenverlag
- 102 Seiten
- 23,00€ Bei Kwimbi bestellen
- Text Copyright 2013 Alexander Lachwitz
- Cover, Artwork Copyright Marvin Clifford