Mit Reamde (Originaltitel) legt Neal Stephenson nach tiefschürfenderen Ausflügen in die Mathematik und andere Naturwissenschaften wieder einen überraschend eingängigen Roman vor. Nichtsdestotrotz darf man sich aber auch dieses mal wieder über ausschweifende Erklärungen und bis in die letzten Nebensächlichkeiten ausgeschmückte Beschreibungen freuen oder den Autor verfluchen.
Falls jemand mit Neal Stephenson nichts anfangen kann; sein Roman Snow Crash hat Anfang der 90er unter anderem die Idee für Google Earth und Second Life vorweggenommen und vor allem das Konzept der Avatare als digitale Verköperungen realer Personen im Internet entworfen. Zusammen mit Wiliam Gibsons Neuromancer hat Snow Crash das Internet wie wir es heute kennen schon während seiner Frühphase bzw. kurz davor entscheidend geprägt. Seitdem beschäftigt sich Stephenson immer wieder mit diversen neuen Technologien und Medien, auch als Initiator und Unterstützer und vermischt diese in seinen Romanen aber auch gerne mit historischen Gegebenheiten.
Error erzählt die Geschichte von Richard Forthrast, Ex-Drogenschmuggler, schwarzes Schaf der Familie und Selfmade-Millionär sowie seiner Adoptiv-Nichte Zula. Rund um diese beiden Personen stellt er ein breites Ensemble an Freunden, Familienmitgliedern, Mafiosi, Hackern, Agenten und Dschihadisten auf die sich auf den über tausend Seiten sowohl in der realen als auch digitalen Welt eine sehr tödliche Hatz liefern.Zuerst wirkt alles noch sehr beschaulich. Stephenson nimmt sich viel Zeit um die etwas hinterwäldlerische Familie der Forthrasts vorzustellen, inklusive ihrer Vorliebe für Schußwaffen und große Autos. Dass sie nicht zu klischeeverklebten Rednecks verkommen macht diese längere Exposition durchaus interessant. Stephenson nimmt sich die Zeit um hinter die Fassade scheinbar einfacher Figuren zu klettern und ihr Inneres unverkünstelt offen zu legen. Richard ist ein leicht übergewichtiger etwas eigenbrötlerischer Kerl um die 50 der entsprechend seines bisher sehr abwechslungsreichen Lebens sehr abgeklärt daherkommt und dem man selbst bei extremen Ereignissen die Stephenson so typische distanzierte Ironie gut abnimmt.
Mit seiner selbstgegründeten Firma hat Richard ganz nach dem Vorbild von
World of Warcraft ein Online-Rollenspiel namens T’Rain auf den Markt gebracht, dass sich vom Platzhirsch in einer wichtigen Tatsache unterscheidet: Die sogenannten China-Farmer, chinesische Spieler die in MMO-Spielen für westliche Spieler illegal Spielgeld und Gegenstände „farmen“ und an diese für Echtgeld verkaufen, sollen in T’Rain direkt implementiert werden. Umgesetzt wird dies durch eine Limitierung der Goldvorräte in dieser Welt und einiger anderer Kniffe, die sich für erfahrene MMO-Spieler nur auf den ersten Blick verrückt anhören.
Auf diesen ersten Rahmenstrang kommt die Handlung immer wieder zurück und in diversen Rückblenden wird auf sehr detailierte und durchaus Interessante Weise von der Entstehung des Spiels und seiner Spielwelt erzählt. Dabei schlägt Stephenson gekonnt einen Bogen zwischen modernen Videospielen, klassischer und moderner Fantasy indem er ihre Grundkonzepte von diversen Figuren anschaulich zerlegen und erläutern lässt. Dass die reine Handlung selbst auf weniger als ein Drittel der Seiten gepasst hätte, lässt sich nicht leugnen. Man muss als Leser definitiv eine Bereitschaft mitbringen sich auch in augenscheinlich trockene Gebiete entführen zu lassen, ohne gleich eine Popcorn-Unterhaltung a la Jurassic Park oder Der Schwarm zu erhalten.
Da sich Stephenson dieses mal aber wohl auch mehr Action und Gegenwarts-Thriller auf die To-Do-Liste gesetzt hat, wird die Handlung rasch um einen verschuldeten Mafiosi ergänzt, der von allem digitalen so gar keine Ahnung hat. Als dann dessen versprochene gestohlene Kreditkartendaten wiederum von einem modernen Virus als Geisel gehalten werden, versteht der Pate nur Bahnhof und kann nur mit viel gutem Zureden davon abgehalten werden neue Betonschuhe zu vergeben. Um beide Erzählstränge zu verknüpfen, macht sich der Virus das Echtgeldsystem von T’Rain zu Nutze und fordert eine Übergabe in der Spielwelt. Allerdings ist der virtuelle Treffpunkt schon zu einem Schlachtfeld geworden auf dem eine geordnete Lösegeldübergabe nicht mehr möglich ist, da andere Spieler Wind davon bekommen haben und versuchen die Lösegelder zu stehlen.
Also muss dem Problem anders beigekommen werden, so dass der Mafiosi kurzerhand Zula mitsamt ihrem Freund, der an dem ganzen Schlamassel Schuld ist, nach China entführt, damit sie dort den Verantwortlichen für den Virus aufspüren. Für diese „Trolljagd“ wird die Truppe noch um den „Sicherheitsberater“ Sokolov und den Hacker Csongor ergänzt, beide auf ihre Art natürlich Experten erster Güte, während sie in anderen Lebensbereichen symphatisch naiv daherkommen. Als letztes kommen schlussendlich noch zwei Briten in Form einer MI6-Agentin und einem von ihr gejagtem Dschihadisten ins Spiel. Der eigentliche Virenautor wird nach einiger Zeit nur noch zur Nebenfigur, ohne aber blass zu werden. Generell gelingt es Stephenson wieder einmal sehr gut ein vergleichsweise großes Portfolio wichtiger Figuren durch seine Handlung zu führen ohne den Faden zu verlieren.
Allerdings lässt sich auch gut erkennen, dass ein klassisch gestrickter Thriller für Stephenson, man verzeihe mir diesen billigen Merkel-Seitenhieb;
Neuland ist. Zu sehr verhedert er sich in den beiden großen Action-Szenen der Handlung in den Details. Man muss ihm zugute halten, dass er gerade mit dem Russen Sokolov eine Figur erschaffen hat, die in seinem militärisch geprägten Rahmen fast ebenso gut überzeugen kann wie seine sonst in der modernen Technik beheimateten Figuren. Dies und sein trockener Humor machen diese etwas langwierigen Passagen erträglicher. Dass der Autor mit Nicht-Action-Szenen deutlich besser klarkommt, merkt man dann auch schnell, wenn Sokolov bei seiner weiteren Reise zu einer der unterhaltsamsten Nebenfiguren avanciert, obwohl er sich die meiste Zeit in für ihm eher unüblichen Terrain bewegen muss.
Neben den diversen Aspekten digitaler Spiele und speziell der MMOs wird auch die digitale Technik wieder mit dem Hang zum philosophierenden Perfektionisten beschrieben. Dies kann bei einer späteren Lektüre zu Irritationen führen, wenn man merkt wie ‚veraltet‘ die beschriebene Technik doch ist. Und doch trifft Stephenson damit einen sehr wunden Punkt unserer Technik-vernarrten modernen Gesellschaft, indem er damit eben genau diese Vernarrtheit auf verständliche und doch leicht gemahnende Weise offenlegt. Man kann dies als trocken empfinden oder als gut platzierten Hinweis.
Abgerundet wird die ganze Erzählung mit den üblichen trockenen Kommentaren auf die Handlung und unsere Gesellschaft selbst. Auch vor seinem eigenen Werk macht er nicht halt, wenn Richard das Start-Logo seines Spiels an Google-Earth anlehnt und sich über Urheberrechtsklagen keine Sorgen macht, nachdem er erfahren hat, dass Google-Earth wiederum von einem älteren Science-Fiction-Roman inspiriert ist (siehe erster Absatz). That’s Stephenson…
Gute Pressebilder sind rar, also behelfen wir uns selbst.
Bild: Stefan Dinter
Fazit
Error ist eine im großen und ganzen gelungener Tech-Thriller der die für den Autoren so typischen Detail-Erklärungen mit vielen Aspekten unserer digitalen Kultur und einer packenden sowie greifbaren Handlung vermischt. Dabei geht es nicht einmal um das große Ganze, oft bewegt sich der Spannungsbogen lediglich rund um das Heil der Familie Forthrast, wodurch die Handlung für den Leser sehr greifbar wird. Vergleicht man es beispielsweise mit Cryptonomicon kommt Error weit weniger theoretisch und verschachtelt daher und hat einen deutlich vitaleren Humor, der aber längst nicht so sehr ins satirehafte geht wie noch bei Snow Crash.
Ein kurzes Wort zur Hörbuchfassung: Detlef Bierstedt, der bisher auch alle anderen Stephenson-Bücher eingesprochen hat, macht einen gewohnt guten Job und betont den eher leisen Humor des Autors mit einem sehr filigranen Timing. Während er die russischen bzw. ungarischen Figuren sehr gut differenzieren und charakterisieren kann, fällt dieses Niveau bei den chinesischen Akteuren etwas ab, was bei der großen Menge an Figuren aber verschmerzbar ist. Ansonsten bleibt Bierstedt sich treu und schnarzt die Geschichte mit seiner eingängigen und leicht polternden Art herunter.
Text Copyright 2015 Alexander Lachwitz
Cover, Artwork Copyright Goldmann Verlag
Portrait Copyright Stefan Dinter
[…] keinen Neal Stephenson. Letzterer hat mit dem unterhaltsamen aber teilweise auch sehr sperrigen Error quasi das intellektuell anspruchsvolle Gegenstück zu Ready Player One verfasst. Es ist sehr […]